Fabian Müller: Unorte

Abgrenzung und Definition

Fällt einem auf die Schnelle keine griffige Definition des Wortes »Unort« ein, so liegt dies auch daran, dass es bereits zum Erscheinen des Deutschen Wörterbuches von Jacob und Wilhelm Grimm (DWB) im Jahr 1838 als unüblich galt und zwischenzeitlich als ausgestorben betrachtet werden darf, bis es als Motiv der Fotografie in den 1960ern von Stephen Shore und nachfolgend anderen als Übersetzung des englischen »uncommon place« (wörtlich: unüblicher Platz) verwandt wurde. Bei genauerer Auseinandersetzung ist der Unort jedoch weitaus mehr als nur ein unüblicher Platz.

Eine elegante Methode, sich einer Begriffsdefinition anzunähern, ist die Definition der Negation, oder anders ausgedrückt: Was ist ein Unort nicht? Die auffälligste Wortverwandtschaft besteht mit der Utopie (griechisch οὐτοπία: Nicht-Ort), doch anders als die Utopie sind Unorte Bestandteil unserer (je nach gesellschaftlichem Stand und Umgang mehr oder weniger alltäglichen) Lebenswirklichkeit. Auch der Nicht-Ort (französisch non-lieu) des Anthropologen Marc Augé, ein einseitig genutzter Platz ohne Geschichte oder Identität wie etwa ein Einkaufszentrum oder eine Autobahn, übernimmt nur einen Teil der reichen Sprachgeschichte, die das Wort »Unort« im Deutschen begleitet. Verlassene Orte hingegen besitzen anders als der Nicht-Ort tatsächlich eine Geschichte; und sollten sie auch heute verlassen sein, so umgibt sie noch ein Nimbus, der sie von der vordergründigen Seelenlosigkeit des Unortes unterscheidet.

Unorte hingegen sind vom Menschen geschaffene Natur, und man verzeihe an dieser Stelle den Widerspruch zur Definition der Natur. Genauer formuliert sind Unorte Orte, die eine Abkehr von der Entropie1Die Entropie eines Systems bezeichnet grob gesagt seine Durchmischung. Gut vorstellen kann man sich das anhand eines Mixers: Ist am Anfang die Entropie noch niedrig, wenn sich Erdbeeren, Eis, Zuckerwürfel und Milch ungemischt im Mixer befinden, erhöht das Anschalten des Mixers die Entropie, bis sie im Idealfall in komplett durchmischtem Erdbeermilkshake gipfelt., vom Hintergrundrauschen des Seins, darstellen, also Struktur innehaben, aber nicht natürlich gewachsen sind, sondern ihre Daseinsberechtigung in schlichter Kausalität finden. Während ein Theater, ein Marktplatz, aber auch privater Raum wie eine Wohnung zu einem hohen Grad Selbstzweck sind, sind die Unterführung, die Autobahnraststätte, die Bahngeleise in erster Linie Kollateralen der Urbanisierung. Daraus ergibt sich eine Skala aus Ort und Unort, deren Maß Selbst- oder Mitzweck ist; eine binäre2Binär (von lateinisch bini, -ae, -a: paarweise) ist eine Entität, die nur zwei Zustände kennt. Gängige Computer arbeiten etwa binär, da sie nur die Zustände 0 (kein Strom) und 1 (Strom) kennen. Einordnung ist folglich unmöglich.

Mit diesem Begriffskorpus gerüstet, lohnt sich eine etymologische Herangehensweise, um die Dimensionen des Begriffes genauer zu erfahren.

Etymologische Herangehensweise und Deutung

Einer Sekundärquelle zufolge findet sich eine Nennung des Unortes in frühen Auflagen des Grammatisch-kritischen Wörterbuches Adelungs unter dem Stichwort »Ungemach«, wo das Ungemach in seiner Bedeutung einer Kerkerzelle, die weder sitzen noch stehen erlaubt, als Unort bezeichnet wird. Das eingangs erwähnte Grimm’sche Wörterbuch führt unter dem Stichwort »Unort« auf: »UNORT, m.: orth, unorth, ewigkeit, zeit, nacht, tag Silesius wandersm. 30 ndr.; desertum Stieler 1396. unüblich. — «. Was auf den ersten Blick kryptisch erscheint, erhellt sich, wenn man die Definition eines Ortes im DWB heranzieht, die weitaus umfassender ist als die heutige Alltagsverwendung, genauer »ein von menschen besuchter und benutzter platz, ein platz des öffentlichen verkehrs«, suggeriert. So ist der Ort auch »himmelsgegend«; man spricht »auch vom raume im philosophischen sinne«.

Weiterhin ist ein Ort nicht nur auf die vom Menschen scheinbar statisch erlebten Raumdimensionen beschränkt, sondern laut DWB in älterer Konnotation die Beschreibung eines Bereichs in der Raumzeit. Daraus lässt sich die Definition des verlassenen Ortes verfeinern: Der Nimbus, der Glanz des Gewesenen, herrscht nur dort, wo dieser Bereich auch die Vergangenheit vor dem Verfall mit einbezieht. Umgekehrt folgt daraus für die Unortsdefinition: Ein Unort ist unter Berücksichtigung der Zeit auch der unerfüllte Ort zwischen zwei Erfüllungen; die leere Oper zwischen zwei Aufführungen, das Schiff zwischen zwei Fahrten.

Doch noch eine weitere Bedeutung hält das DWB bereit, nämlich den Ort als Schneide, Spitze oder Schärfe. Über einen kleinen Brückenschlag würde damit aus dem Unort die Unschärfe: Orte liegen im Fokus, Unorte sind hingegen die Unschärfen im öffentlichen Raum.

Unorte in der Fotografie

Orte, die verlorene Gegenstände sammeln, sind ein häufiges Motiv in der Literatur, so etwa in Cecelia Aherns »A Place Called Here« (Vermiss mein nicht) oder in J.K. Rowlings Harry-Potter-Heptalogie mit dem »Room of Requirement« (Raum der Wünsche). Unorte als Verlorene Orte an sich sind dagegen ein bislang hauptsächlich fotografisch erfasstes Motiv. Der Reiz der Unort-Fotografie liegt hierbei im Abweichen von gefestigter Ästhetik und bekannten Raumvorstellungen, im sichtbar gewordenen Blick hinter die potemkin’schen Dörfer des urbanen und suburbanen Raums. Sich anbiedernde Rahmen der Fotografie werden außer Acht gelassen, um das Überstrahlte abzulichten.

Ein geschärfter Blick für Unorte offenbart diese überall; kehrt das gewohnte Ortsverständnis um. Wo vorher von Zeit zu Zeit scheinbare Hässlichkeit und Identitätslosigkeit das urbane Bild durchbrachen, finden sich nun einzelne Inseln der Schönheit im schier endlosen Meer eines weitestgehend dienstbaren, aber auf den ersten Blick unästhetischen Organismus. Ist das nicht ein Verlust? Keineswegs! Erstens werden Unorte durch ihre Würdigung und das Erkennen ihrer ganz beifälligen Qualitäten gemäß dem japanischen Konzept des Wabi-sabi3Japanisch 侘寂, etwa: die Schönheit der herben Schlichtheit. ihres Makels beraubt. Und zweitens gewinnt der schöne Ort erst dann wahrhaft an Bedeutung, wenn anerkannt wird, auf welch riesenhaften Schultern eines wohlgesinnten Molochs der Unorte er steht.

In diesem Licht erschließen sich auch die poetischen Worte des schlesischen Barockdichters Silesius im Wörterbuch der Gebrüder Grimm: »orth, unorth, ewigkeit, zeit, nacht, tag.«4Angelus Silesius, Die Gleichheit: »Ich weiß nicht was ich soll. Es ist mir alles ein / Ort, Unort, Ewigkeit, Zeit, Nacht, Tag, Freud und Pein.« (Cherubinischer Wandersmann, 1. Buch, Nr. 190).