Starnberger Hefte 37: untätig

Die Anregung zu unserem Thema gab uns diesmal ein kenntnisreicher Essay Roger Schöntags über das literarische Motiv der Faulheit im Wandel der Zeiten. Hier knüpfen die meisten Geschichten und Gedichte des Heftes an.

Als Motto wurde aber nicht „faul“, sondern „untätig“ gewählt, weil diese Bedeutung offener ist, offen etwa für einen Gedanken der frühen chinesischen Philosophie, der sich im Ausdruck „Wuwei“ kristallisiert. Dabei steht „Nichthandeln“ im Mittelpunkt. So heißt es im „Tao Te King“, einem Lao Tse zugeschriebenen Werk: „Beim Nichtmachen bleibt nichts ungemacht“ (Kap. 48). Über den „Berufenen“ liest man: „Er lernt das Nichtlernen. / Er wendet sich zu dem zurück, an dem die Menge vorübergeht. / Dadurch fördert er den natürlichen Lauf der Dinge / und wagt nicht zu handeln“ (Kap. 64). Oder lapidar: „Wenn wir nichts unternehmen, so wird das Volk von selber reich“ (Kap. 57; alle Zitate nach der Übersetzung von Richard Wilhelm, 1911).

Wir freuen uns, dass es uns gelungen ist, zur Deutung dieses rätselhaften Begriffs einen Beitrag von Hanwoo Lee zu gewinnen, eines koreanischen Kenners der chinesischen Philosophie. – Besonders danken wir auch Annette Girke, Trägerin des Kunstpreises der Stadt Starnberg 2019. Sie stellte uns drei ihrer Gemälde zur Verfügung, auf denen eine Schwimmerin am Rand des Pools eine Pause einlegt. Diese erholsame Ferienpause wünschen wir allen, die dieses Heftchen lesen.

Die Redaktion

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Starnberger Hefte 36: Familienangelegenheiten

And the emptiness of my family’s eyes
Reminds me over and over of lies
And promises and deeds undone
And now again I want to run …

Diese Verse der Band »Country Joe and The Fish« aus den 60er-Jahren stellen sich immer noch ein, wenn das Wort »Familie« erklingt: Fluchtreflexe, Lügen, falsche Versprechungen, Leben im Leerlauf. Mit dem Älterwerden füllt sich das Wort langsam wieder mit Wärme.

Hier nun ein ganzes Heft über Familienangelegenheiten: Geschichten und Gedichte, in denen die Figur der Eltern oder Großeltern aufblitzt, Eheanbahnungen, die Lebenslinien von nahen und entfernten Verwandten. Als Hintergrund ein Überblick über die Bedeutung von »familia« in der Römerzeit, der z.B. erklärt, wo der verheißungsvolle Begriff der Emanzipation seinen Ursprung hat.

Es freut uns besonders, dass die Malerin Irene Fastner aus München uns mehrere Bilder zur Illustration des Themas überlassen hat. Als Cover: Familie, Hinterglasmalerei (2011, Foto: Wolfgang Petzi). Sie ist eine Schülerin von Helmut Sturm (1932-2008), dem Mitbegründer der Gruppe »SPUR«.

Die Redaktion

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Starnberger Hefte 35: Schelme, Gauner, Philister und die ganz normalen Leute

»Schelme, Philister – das versteht doch niemand. Und von den ›normalen Leuten‹ sollte man nach diesem Bierzeltwahlkampf 2023 auch nicht mehr reden«, so die ersten Reaktionen auf unser aktuelles Motto.

Nun haben die Starnberger Hefte, mit dem Kulturpreis des Landkreises geehrt, einen gewissen Bildungsauftrag, und so sei angemerkt, dass Schelme nicht nur schelmisch blicken und lächeln, sondern im Mittelalter zu den verachteten und gefürchteten Gruppen am Rande der Gesellschaft gehörten. Der Henker war ein Schelm, auch der Abdecker. Die Bedeutung »Schlingel« und »Spaßvogel«, die das Wort im 18. Jahrhundert bis heute annimmt, stellt demgegenüber eine Aufwertung dar. Der »Philister« wiederum verkörpert den behäbigen Bürger, in Beruf und Familienrolle gebunden, ein Spießbürger, als »viel isst er« von den Künstlern und Studenten früherer Jahrhunderte teils verspottetet und teils auch beneidet. Die Rollen und unsere Beiträge überschneiden sich, wie fast jeder in seinem Leben mal in die Schelmen- und mal in die Spießerrolle schlüpft und sich dabei zumeist ganz normal fühlt.

Noch ein Hinweis in eigener Sache: Gestiegene Kosten nötigen uns leider, den Verkaufspreis für das Einzelheft im Buchhandel nach 12 Jahren von 6 € auf 8 € zu erhöhen. Die Abonnementspreise bleiben unverändert.

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Starnberger Hefte 34: Norden

Trübes Hamburger Elbwasser, Schneefelder in den Gebirgen Nordnorwegens, kalte Regennächte in den schottischen Highlands – mit dem Motto „Norden“ wollen wir einen Kontrast gegen die Hitze des Sommers setzen, die uns in Deutschlands Süden wohl wieder erwartet. Den historischen Rahmen dazu bilden „Schriften zum antiken Leben“ von Wolfgang Schwalbe (1940-2018), die uns seine Tochter Annette dankenswerterweise zur Verfügung stellte. Es wurden zwei Kapitel ausgewählt, die zu unseren Wegen in die nördlichen Sehnsuchtsländer passen.
Einen Richtungswechsel in die Vertikale vollzieht demgegenüber Melsene Schramm mit der Erzählung „Himmlisches Ehrenamt“, ihrem Debüt bei den Starnberger Heften.

Die Redaktion

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Starnberger Hefte 33: Zeit der Murmeltiere

Unser Motto Zeit der Murmeltiere stammt von Pauline Petereit, die nach studienbedingter Schreibpause wieder ein Gedicht zu unseren Heften beitrug. Das Motiv scheint einen Nerv der Zeit zu treffen: Rückzug in den Bau, Suche nach Schutz und Wärme, Wachsamkeit, schrilles Pfeifen. Es inspirierte Stammautorinnen und -autoren, aber auch viele neue Stimmen in unserem Heft.

Zugleich gibt es Neuerungen in der Redaktion. Patricia Czezior redigiert nun als leitende Redakteurin die Beiträge, Fabian Müller gestaltet weiter das Layout, Julian Schmidt das Titelbild. Um die Öffentlichkeitsarbeit kümmern sich Julia Behr und Vanessa Lange. Die Druckvorbereitung liegt in den Händen von Roger Schöntag, und Ernst Quester ist weiter als verantwortlicher Herausgeber tätig.

Während der Vorbereitung dieses Hefts erreicht uns die Nachricht vom Tod unserer Autorin Inge Geissinger (1942-2023). Unvergesslich, wie sie ihre Verse mit zarter, eindringlicher und sicherer Stimme vortrug, immer auswendig. Ihr Gedächtnis hatte sie am Bankschalter geschult. Hier das letzte Gedicht, das sie uns übersandte:

Erde wird Staub
wie auch das Laub
Stein wird zu Sand
Dünen und Strand.

Wind weht und treibt
alles, was bleibt
Staub und Sand
im Wolkenverband.

Die Redaktion

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Starnberger Hefte 32: schreiben reisen Dekopuppen

Das etwas ausladende Motto ist so ganz ohne Zusammenhang nicht. Ursprünglich sollte es „Schriftgelehrte“ lauten und den zweiten Teil der Studie von Wolfgang Döbrich über seine Zeit als Studentenpfarrer in München sowie Texte zum Schreiben und zur Erzählkunst enthalten. Dann flatterte eine bizarre Geschichte über Schaufensterpuppen in die Redaktion, echte Literatur der Arbeitswelt, in einem Tutzinger Sportgeschäft entstanden. Schließlich drängte das Reisetagebuch über eine Fahrt mit Starnberger Schülern in die DDR 1984 ans Licht der Öffentlichkeit, zumal die damalige Initiatorin, die hochgeschätzte Deutsch-, Geschichts- und Sozialkundelehrerin Hilde Brand (im Tagebuch noch: Schön) der Redaktion überraschend zwei Kästen mit Dias von dieser Reise überließ. Zu den vielen Erkenntnissen der sechstägigen Fahrt gehört die Einsicht, dass Gäste und Gastgeber sich oft benahmen, als wären sie Dekopuppen, von den beiden damaligen Weltsystemen in ihre Schaufenster gestellt. Auf diesem Weg kam das Motto „reisen schreiben Dekopuppen“ zustande.

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Starnberger Hefte 31: Das gelungen Leben

Den Anstoß zum Motto „Das gelungene Leben“ gab eine Erzählung mit diesem Titel, in der es aber nicht um Erfolgs-Tipps geht, sondern um Beobachtungen und Gedanken im Kehrwasser des Lebensstroms. Gute Ratschläge vermittelt eher der Text über „Ikigai“, einen Begriff, der im Japanischen für eine sinnerfüllte und harmonische Einstellung zum Leben und die damit verbundenen Tätigkeiten steht.

Überhaupt ist das Verbindende der meisten Beiträge, dass sie Momente im Jahrmarktsrummel des Lebens festhalten, in denen das Ganze ins Blickfeld gerät. Bei Wolfgang Döbrichs Darstellung seiner Zeit als Studentenpfarrer in München geht es um eine lebensprägende Phase. Das Altersspektrum der Verfasser reicht von der Teenagerzeit (Laura Lieb: „Gewinnen“) über die frühen und mittleren Jahre bis in den höheren zweistelligen Bereich, den der Psalmist uns zuweist, damit wir die Starnberger Hefte als unser kleines „Ikigai“ betreiben können.

Die Redaktion

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Starnberger Hefte 30: Süden

Themen wie „Soldaten“ und „Macht“ haben wir in unseren beiden letzten Heften noch mit der Unbefangenheit und in der Illusion friedlicher Zeiten behandelt. Nun schlägt mitten in Europa die Pranke des Krieges mit voller Wucht zu. Pensionierte Militärs geben mit ernster Stimme und müden Augen ihre Lagebeurteilungen ab, junge Politikerinnen und wohlinformierte Journalisten fordern temperamentvoll eine Ausweitung des Einsatzes.

Die Starnberger Hefte versuchen demgegenüber mit ihrem Motto „Süden“ etwas Entlastung zu schaffen, einen Fluchtpunkt für die Phantasie und die Erinnerung daran, wie wir von unseren europäischen Nachbarn beim jugendlichen Aufbruch gastfreundlich auf- und mitgenommen wurden. In die eigene Ratlosigkeit melden sich Stimmen aus früheren Kriegszeiten, etwa von J. P. Hebel: „ … denn der Krieg soll nie ins Herz der Menschen kommen. Es ist schlimm genug, wenn er außen vor allen Toren und vor allen Seehäfen donnert.“ (Unglück der Stadt Leiden, 1808) Unvergessen auch Eduard Mörikes Gedanken an unsere deutschen Krieger von 1871: „Bei euren Taten, euren Siegen / Wortlos, beschämt, hat mein Gesang geschwiegen. / Und manche, die mich darum schalten / Hätten auch besser den Mund gehalten.“

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Starnberger Hefte 29: Macht

Kampf der Pallas Athene gegen die Dämonen der Dummheit. Tür zur Bibliothek des Klosters Polling (Johann Baptist Baader, 1779) – Foto: Werner Bauer, mit Genehmigung des Vereins der Freunde des Pollinger Bibliothekssaals e.V.

In den Fünfzigerjahren kannte und praktizierte man „Schiebewurst“. Eine Scheibe Pressack oder Schwartenmagen für drei Brote. Man schob die Scheibe mit den Zähnen von der ersten Schnitte auf die zweite, später auf die dritte, und erst dann biss man hinein. – Ganz ähnlich ging es uns in der Redaktion mit dem Thema „Macht“. Kritik an der Ausübung von Macht fällt leichter, wenn dies in fernen Ländern oder zumindest in fremden Lebensbereichen geschieht. Richtet man die Kritik aber ins eigene soziale Umfeld, hält die deutschen Sprache das schöne Wort „Nestbeschmutzer“ bereit. In der Begegnung mit Macht werden die Grenzen des eigenen Muts deutlich, und nach dem Einlenken gegenüber der Macht rät einem die Scham, nun doch lieber den Mund zu halten.

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Starnberger Hefte 28 : Soldaten

Das Thema „Soldaten“ war in der Redaktion umstritten. Schließlich ist es heute für die meisten jungen Leute historisch, und „Wehrpflichtige“ werden seit 2011 in der Bundesrepublik nicht mehr eingezogen.

Beim Rückblick auf die „Wehrdiensterlebnisse“ fällt einerseits auf, wie viel jugendlicher Rigorismus damals die politischen Gespräche und die generelle Militärkritik prägte. Andererseits war dann die Realität der Bundeswehr nicht so schlimm wie die Befürchtungen zuvor, genährt durch die Familienschicksale, vorgebracht zumeist von den Müttern. Aber vielleicht haben gerade die mangelnde Begeisterung fürs Militär, die steigende Zahl der Wehrdienstverweigerer, die in beiden Teilen Deutschlands wirksame Friedensbewegung der 80er-Jahre zum insgesamt positiven Verlauf des Jahres 1989 beigetragen.

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